ALFRED RADELOFF

Interview mit Pfarrer Alfred Radeloff, Kreisoberpfarrer von 1977 bis 1997 und Ehrenbürger der Stadt Dessau

 

Alfred Radeloff: Frau Kamenik, es ist schön, dass Sie hier sind und mir jetzt Fragen stellen und das wird geschnitten.

 

Kim Kamenik: Herr Radeloff, könnten Sie uns bitte schildern, wie die Wendezeit in Dessau verlief.

Alfred Radeloff: Meine Güte. Das ist ja ein Thema für ein Buch. Ich habe ja auch eins geschrieben. Da kann man das alles nachlesen. Sie müssen schon etwas spezieller fragen. So eine allgemeine Frage, wie das verlief, das kann ich nicht beantworten.

 

Kim Kamenik: Könnten Sie uns sagen, wann in Dessau demonstriert wurde, wie alles begann? Sie meinten mal zu mir, dass es Jugendgruppen gab. Wie entwickelte sich das hier, von welchen Perspektiven?

Alfred Radeloff: Ja, das ist eine gute Frage, die sie stellen. In Dessau hat es nicht angefangen, sondern wir wissen natürlich, dass es in Plauen angefangen hat und dass man sich in Leipzig getroffen hat. Leipzig, ja, ist eigentlich der Ort, wo die Dessauer auch die Inspiration bekommen haben. Die sind nach Leipzig gefahren, so wie später die Leipziger nach Dessau gekommen sind. In Leipzig waren die Montagsdemonstrationen; in Dessau waren die Freitagsdemonstrationen. Es ist ein Mythos, dass die Montagsdemonstrationen überall am Montag gewesen sind. Hier also Freitag und das hängt damit zusammen, dass es in Dessau eine starke Gruppe, übergemeindliche Gruppe von Jugendlichen gegeben hat, die sich  erst monatlich und dann wöchentlich freitags getroffen haben. Die Ursubstanz, die Urbrühe der Demonstration und der friedlichen Umwälzung war die Jugend, die Jugendlichen, so in ihrem Alter, wie sie jetzt vor mir stehen. Sie waren es gewesen und die uns Alte mitrissen.



Kim Kamenik: Wie war ungefähr der zeitliche Verlauf? Wie lange haben sich die Jugendgruppen getroffen und ab wann kann man sagen, ist das wirklich in Tausende, die die Kirche besucht haben, umgesprungen und ab wann war es so, dass Tausende auf dem Marktplatz standen?

Alfred Radeloff: Ja, ich bin Kreisober-/Kreisjugendpfarrer gewesen und auch Kreisoberpfarrer. Kreisoberpfarrer, das ist sowas wie Superintendent anderswo. Ich hatte also die Verantwortung für etwa 40 Pfarrer und ebenso viele Kirchengemeinden im Kirchenkreis Dessau und ich bin mit meinen Jugendlichen hier aus der Johanneskirche, eine ziemlich starke Jugendgruppe, an einem Freitag 18 Uhr in der Georgenkirche gewesen. Da haben die sich monatlich getroffen zur Monatsrüstzeit und später ist daraus eine wöchentliche Angelegenheit geworden und da bin ich so als Methusalem dabei gewesen und habe dazugehört, habe mir gedacht: „Mensch, das ist genauso wie zu der Zeit, als du mal jung gewesen bist. Als man uns, die wir in die Junge Gemeinde gingen, mit großen Schwierigkeiten in der Schule versetzt hat, sind welche von von der Schule geflogen einige sind nach dem Westen gegangen. Das ist jetzt wieder genauso. Die träumen sich alle in den Westen und sollten doch eigentlich hier bleiben.“ und sie erzählten von ihren Schwierigkeiten, laut und deutlich in der Georgenkirche und beteten, etwa so:

„Gott, Anne ist in den Westen gegangen. Hilfe ihr, dass sie sich dort zurecht findet.“ Damals gab es ja die Mauer noch nicht. Damals konnte man über Berlin auf jeden Fall in den Westen kommen und ich dachte mir: „Alle gehen sie weg. Wieder gehen sie alle weg.“ und dann haben mich die jungen Leute gefragt, ob ich am nächsten Freitag nicht die Predigt halten würde. Habe ich gesagt: „Ja, mache ich.“ und in dieser einen Woche, Anfang Oktober, war es dann so, dass plötzlich mich jemand anrief: „Wann habt ihr den Gottesdienst?“ –  Gebet um Erneuerung haben wir es genannt – „Am Freitag.“ Dann habe ich ihnen die Zeit gesagt und dann kam der nächste Anruf. Meine Frau erzählte mir, wenn ich dann weg war, riefen andere an. Da habe ich mir gedacht: „Mensch, wenn so viele kommen wollen, vom Waggonbau, überall von den Betrieben, die es damals in Dessau gab, und wollen in diesen Gottesdienst gehen; da können wir nicht in die Georgenkirche gehen.“ Da sind wir in die Johanneskirche gegangen, hierher, und es waren dann alle Plätze besetzt, alle Gänge voller stehender Leute. Ich weiß nicht. Es wurde geschätzt, dass so etwa zweitausend drinnen waren und draußen standen noch einige Tausend von der Demonstration „Gebet um Erneuerung“.

Ja und von der Erneuerung habe ich dann auch gepredigt und dann bin ich mitgegangen auf den Marktplatz und da waren einige Tausend da. Das war die erste größere Demonstration, die wir in Dessau hatten. Vorher hat es schon kleinere gegeben.

 

Kim Kamenik: Können Sie sagen, wann das ungefähr gewesen war, zeitlich?

Alfred Radeloff: Das steht alles in meinem Buch und ist da nachzulesen. Es war Anfang Oktober, also ich habe das Buch nicht mit, sonst könnte ich das jetzt aufschlagen und sagen…

 

Kim Kamenik: Wie sah das mit der Euphorie aus? Sie als Pfarrer haben sie ja erlebt, die Hoffnung und Gefühle der Betroffenen, die hier herkamen. Was waren ihre Wünsche, ihre Ängste?

Alfred Radeloff: Also, da werde ich jetzt an eine Situation erinnert, die für mich einmalig war. Der Gottesdienst war gelaufen, anschließend waren noch etwa 800 zurückgeblieben, hier in der Kirche, weil ich angeboten hatte: „Wir können noch miteinander sprechen.“ und dann stand ich da vorne, ziemlich verloren und schaute die Leute an und bat darum, dass jetzt nun auch jemand was sagt. Da stand natürlich keiner auf. So schnell geht das nicht und dann plötzlich stand doch einer auf. Etwa hier so stand er, schaute die Leute an und sagte etwa folgendes: „Ich bin Waggonbauer.“ und dann erzählt er von seiner Arbeit, die er machte, und von den Schwierigkeiten, die er hatte, und was ist alles nicht gab, erzählte er. „Und das muss anders werden“, sagte er; und dann stand der nächste auf. Der hatte sozusagen den Bann gebrochen, der einfach da war. Die Leute trauten sich nicht etwas öffentlich zu sagen. Sie müssen sich klar machen, dass die Stasi natürlich auch da war. Die war ja deutlich zu erkennen an ihrer Kleidung. Die (Mitarbeiter der Staatssicherheit, Anm. der Redaktion) hatten zwar keine Uniformen, aber man konnte ihnen geradezu am Gesicht ansehen, wo sie herkamen. Da oben saßen sie auf der Empore und auch hinten in den Reihen. Die (Staatssicherheit, Anm. der Redaktion) hat eine Menge Leute geschickt. Das ist, glaube ich, auch irgendwo abgedruckt und vor denen hat sie das nun gesagt, offen und frei ihre Meinung, mit der Absicht, die sie ganz deutlich gesagt hat: „Die Verhältnisse müssen sich ändern. Wenn Sie sich nicht ändern, ist das nicht auszuhalten.“

 

Kim Kamenik: Und auf dem Marktplatz, wenn da 40.000 stehen, oder noch mehr, dann ist das ja auch eine Stimmung. Wie war diese Euphorie? War die zu spüren bei den Menschen?

Alfred Radeloff: Es war eine Zeit der Unruhe, auch der inneren Unruhe, und alle hofften auf Veränderung. Es passierte ja auch politisch einiges durch den Druck von der Straße damals und das war natürlich auch zu spüren – auch in den Reden, die gehalten worden sind sprachen ja einzelne – Herr Neubert zum Beispiel, Dr. Neubert, der dann Oberbürgermeister geworden ist später, aber auch andere; und ja wenn man da stand vor den Tausenden war das ein eigenartiges Gefühl. Ein Gefühl allerdings, das ja nicht kämpferisch war in dem Sinne oder streitsüchtig, sondern es war das innere Verlangen bei allen da: „Die Dinge müssen sich auf friedliche Weise verändern.“ Mehr kann ich eigentlich dazu nicht sagen.

 

Kim Kamenik: OHNE GEWALT VON RADELOFF NOCHMAL HÖREN…

Alfred Radeloff: Ohne Gewalt, das war, was uns bewegte, denn wir hatten die Bilder vor Augen aus Polen, aus Tschechien, Tschechoslowakei, wo es zu Gewalttaten gekommen ist und wo in Polen ja auch die Armee eingegriffen hat, wo auch geschossen wurde, wo auch Menschen zumindest verletzt wurden. Das wollten wir nicht. Wir wollten es auf friedliche Weise lösen und haben uns deswegen auch bemüht, den Kontakt zu den sowjetischen Soldaten herzustellen, zur Stadtkommandantur. Wir haben jemanden hingeschickt; wir hatten zwei Lehrerinnen, Russischlehrerinnen, die mit Deutschen verheiratet waren, die Russinnen waren und die sind dann hin marschiert und haben den Russen erklärt, was Sache ist. Wir wollten ihn deutlich machen: „Wir wollen das ganze friedlich haben und ohne Krieg, ohne Streit, ohne Waffen.“ und so ist es dann auch geworden. Daran haben viele einen Verdienst, auch die, die regiert haben, die also die Truppen nicht mobilisiert haben, und die russischen Truppen, die friedlich geblieben sind. Wir hatten ja einige – ich weiß nicht – einige tausend russische Soldaten waren in Roßlau (inzwischen Dessau-Roßlau, Anm. der Redaktion) und Kochstedt (heute: Eingemeindung nach Dessau-Roßlau; Anmerk. der Redaktion) stationiert, eine Panzerbrigade in Kochstedt und die waren immer präsent auch in der Stadt.

 

Kim Kamenik: Sie schilderten bereits, dass auch vom Waggonbau Leute hier waren; und Sie hatten ja auch ganz bestimmte Tätigkeiten, z.B. wie sie probiert haben, den Erhalt des Standortes zu retten. Können Sie kurz schildern, was Ihre… (Tätigkeiten waren)  – genau. Jetzt geht es um die Zeit um 1994/95…

Alfred Radeloff: Ja, damals wurden die Betriebe abgewickelt und es war so, dass Waggonbauer zu mir kamen,  Herr Putze zum Beispiel kam zu mir und „Sie müssen uns helfen. Wir demonstrieren. Kommen Sie doch auch.“ und dann bin ich da hin gegangen, habe mich auch erkundigt, was ist hier eigentlich Sache. Der Betrieb sollte auch noch geschlossen werden. Über 2.000 Arbeiter dann plötzlich auf der Straße und das kann einem Pfarrer nicht egal sein. Das sind ja seine Leute, die er auch zum Teil kennt, die dann auf der Straße sitzen. Also da habe ich mir überlegt, erst bin ich mitgegangen und dann kam mir folgender Gedanke: „Ich könnte doch die Firma, die den Waggonbau in der DDR aufkaufen will in Amerika, die könnte ich doch mal irgendwie anrufen oder ihr eine E-Mail schicken. Ich habe dann – E-Mail gab es damals noch nicht – Fax geschickt – E-Mail kommt erst später – ja und habe Kontakt mit denen aufgenommen und die haben mich dann noch angerufen, haben mit mir gesprochen. Da ich ein bisschen Englisch kann, war das kein Problem und die haben dann so reagiert, dass sie die Treuhand, die das Ganze abwickeln sollte, angerufen haben und den erzählt haben, was ich jedem erzählt habe, und die Unruhe, und die wollten sie nicht haben. Daraufhin ist die Treuhand aktiv geworden und hat mich in der Zeitung angezählt. Wie kann ein – ich sag es mal mit meinen Worten, so stand es nicht da aber so konnte man es verstehen – „ein Pfaffe, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, wie kann der sich in die Sache einmischen. Es geht ihn doch gar nichts an.“ Aber es geht mich was an, natürlich.

 

Kim Kamenik: Können Sie erklären, was sie bei dem Telefonat sinnbildlich erzählt haben?

Alfred Radeloff: Ich habe ihnen erzählt, welche Unruhe in Dessau ist, und wie viel tausend dann ohne Arbeit sind. Sind ja nicht bloß die 2.000 gewesen, waren ja Zulieferbetriebe und die Familien müsste man mitzählen, eine große Zahl. Die haben das zwar geahnt, dass da irgendwas schwierig wird, aber haben es so nicht gewusst. Als ich ihnen das erzählte, waren die sehr betroffen.

 

Kim Kamenik: Und sind Sie der Meinung, dass dieser Telefonanruf auch wirklich was bewirkt hat?

Alfred Radeloff: Ja, er hat zum Beispiel bewirkt, dass die Treuhand gekommen ist, mich besucht hat, mich ausgeschimpft hat erst – nachher haben wir uns zusammengesetzt, ich habe den Kirchenpräsidenten noch dazu geholt und wir haben miteinander gesprochen. Wir haben eine Lösung gefunden, eine ganz winzige Lösung. Für 80 Beschäftigte wurde der Betrieb erhalten, aber er blieb erhalten. Das war uns wichtig und das ist es eigentlich schon.

Wenn ich daran denke – viele Gespräche. Wir haben sogar mal miteinander einen Ausflug gemacht nach Wörlitz mit der Treuhand – der Kirchenpräsident und ich – und haben da mit mehreren Männern gesprochen und haben versucht, Wind zu machen, für den Erhalt der Waggonfabrik. Ja, es ist viel zu wenig übrig geblieben. Wir habens versucht. Das ist es.

Für mich ist die ganze Geschichte eigentlich noch nicht zu Ende. Die Treuhand hat so viele Fehler gemacht, finde ich. Es hätte alles anders laufen können; und ich bin kein Freund des Kapitalismus, ich bin kein Kommunist, ich denke sozial als Pfarrer. Also ich bin unsicher in meinem Urteil, ob das alles richtig gewesen ist. Sie haben sicher, die einzelnen Personen, das beste versucht, aber das ganze System, mit dem man an die Sache ran ging damals, war nicht richtig.