HANS-GEORG OTTO

Interview mit Hans-Georg Otto, Oberbürgermeister der Stadt Dessau von 1994 bis 2006

 

Kim Kamenik: Herr Otto, können Sie uns bitte schildern, wie die Wendezeit in Dessau-Roßlau verlief und welche Emotionen sie bei Ihnen weckte?

Hans-Georg Otto: Das würde ich gern tun, aber ich muss ein bisschen ausholen. Also ich bin einer der Wenigen in der DDR, der immer an die Wiedervereinigung geglaubt hat, das auch mit meinen Kollegen oft diskutiert hat und die Wende allerdings 10 Jahre später vorausgesagt hat. Also insofern, als das dann los ging am 7. Oktober 1989 hab ich Bilder im Fernsehen von den Demos in Berlin und war euphorisch und hab gedacht, dass jetzt der Aufbruch wirklich kommt, und hab mich von dem Moment auch eingebracht in die Wendebewegung. Also ich hab an den Freitagsdemonstrationen, die in Dessau waren, teilgenommen; ich habe das Stasiquartier mitkontrolliert und Dinge dort gesichert, habe die Botschaft des Stasichefs auf dem Rathausplatz verlesen, bin einer der Mitbegründer der SDP hier in Dessau – wir hießen ja damals SDP (Die Sozialdemokratische Partei in der DDR war eine politische Partei, die in der Wendezeit in der Deutschen Demokratischen Republik entstand. Sie wurde am 7. Oktober 1989 in Schwante bei Berlin gegründet und vereinigte sich am 26. September 1990 in Berlin mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, SPD; Anmerk. der Redaktion) – und habe in der SDP relativ schnell den Parteivorsitz bekommen, habe den Großteil des SDP-Wahlprogrammes für die Wahlen 1990 geschrieben mit einigen Dessauern zusammen, dem Wirtschaftsteil vor allen Dingen, und habe mich 1990 – am 10. Januar war das, glaube ich – in Berlin zur ersten Delegiertenkonferenz der SDP als Einziger für den schnellen Weg der deutschen Einheit eingesetzt; und ich habe erreicht, dass das Wahlprogramm der SDP 10 Jahre Konförderation in den schnellen Weg der deutschen Einheit gewandelt wurde. Also ich hab mich schon eingebracht und war, wie gesagt, auch sehr euphorisch, das mal miterleben zu können.

 

Kim Kamenik: Die Umbruchszeit bewirkt ja für den VEB Waggonbau eine Krisensituation. Wie konnten Sie in diese Krise einwirken und was waren Ihre Formen des Engagements? Und die zweite Frage: Inwieweit hatten Sie Handlungsspielräume, diese Krise zu beeinflussen?

Hans-Georg Otto: Die Bürger der DDR waren es natürlich aus der DDR-Zeit gewöhnt, dass die Politik, das Rathaus, die Partei in Wirtschaftsbelange eingreifen konnte. Mit der Wiedervereinigung war das alles pasé. Es haben ganz andere Leute entschieden, was mit den Betrieben wird – da kommen wir sicherlich noch drauf. Insofern war der Handlungsspielraum doch recht begrenzt. Ich bin damals gerade ins Amt gewählt worden, als erster frei gewählter Oberbürgermeister, und die Erwartungshaltung der Bürger war natürlich sehr groß, aber es war nicht mehr möglich, als an die Landesregierung zu appellieren, eventuell mit Aufträgen den Betrieb zu unterstützen, dass die Waggons in Auftrag geben, oder mit den Kollegen zu sprechen oder mit den Gesprächspartnern der DWA-Führung, mit dem Aufsichtsrat versuchen, Zeit zu gewinnen. Aber im Grunde genommen, waren die Messen gesunken und die Schließung des Waggonbau Dessaus war nicht aufzuhalten. Erst als derjenige, der von der Treuhand als Privatiseur eingesetzt wurde, – der Dr. Pfannmüller – die Idee entwickelte, mit einem kleinen Teil des Betriebes sich vielleicht zu einem „Schienen-Porsche“ zu entwickeln und attraktive oder neue Modelle zu entwickeln, hat das ganze eine Richtung bekommen, abgesehen davon, dass natürlich die Aktionen auf der Straße, das Anketten des Betriebsrates und so weiter, entsprechenden Hintergrund erzeugt haben, dass man im Land überhaupt gehört wurde und auch das Land mitnehmen konnte – zum Glück hatte ich dort auch Minister aus der SPD, mit denen ich mich relativ gut verstanden habe. Aber da hat das dann eine Wende gekriegt, dass wir noch etwas für den Waggonbau tun konnten, und in den Verhandlungen mit dem DWA-Vorstand haben wir dann erreicht, dass also ein kleiner Betriebsteil sich heraus privatisieren konnte, und die restlichen Flächen konnten wir als Stadt kaufen, mit einem gestundeten Kaufpreis – wir mussten also den Preis erst bezahlen, wenn wir Flächen verkaufen konnten, und wir konnten die Hälfte des Verkaufserlöses behalten. Das war für uns natürlich ganz toll. Damit konnten wir Erschließungen, Neuerschließungen finanzieren, und wir haben auch noch erreicht, dass das Land uns 90% Förderung gegeben hat; und insofern haben wir dann tatsächlich, aus dem was blieb, noch das besten machen können, und es sind ja dann eine Menge von kleinen Betrieben in den anderen Liegenschaften angesiedelt worden, wo sich auch wieder Leute eine Beschäftigung suchen konnten.

 

Kim Kamenik: Sie beschrieben zum Teil, dass die Neuansiedlung recht schwierig verlief in Dessau, da man bestimmte Industrieflächen erst freiräumen musste. Können Sie darauf näher eingehen?

Hans-Georg Otto: Ja. Das ist jetzt schon die Amtszeit vor mir. Die ersten 4 Jahre hatte man das Problem, und für mich die ersten 2 Jahre meiner Amtszeit ja auch, dass alle Flächen in Dessau, die frei waren, die am Stadtrand lagen, Landschaftsschutzgebiete sind (auch Denkmalschutzgebiete; Anmerk. der Redaktion), sie gehören zum Dessau-Wörlitzer Gartenreich, was ja inzwischen Weltkulturerbe ist. Sie (die Stadt Dessau, Wirtschaft; Anmerk. der Redaktion) hatten keine Industrieflächen frei und erst mit der Schließung der Betriebe wie die Magnetbandfabrik (im VEB ORWO Magnetbandfabrik Dessau wurden landesweit Magnetbänder und Magnetkassetten für die Computertechnik produziert; Anmerk. der Redaktion) zum Beispiel konnten wir diese Flächen von der Treuhand erwerben – auch das ist ein Prozess, das dauert Zeit – und konnten die dann abreißen, was nicht mehr verwendungsfähig ist, und neu erschließen. Dazu brauchten sie wieder Fördergelder. Es hat alles Zeit gedauert. Es sind 3 Jahre weg gewesen wie nichts und 7 Jahre nach der Wende war der Investitionsdruck auf den Osten weg. Es hat einen einzigen Ansiedler gegeben. Das war Karstadt (die Karstadt AG; Anmerk. der Redaktion). Die wollten hier ein Warenverteilzentrum bauen mit einem Arbeitskräftepool von – gleich am Anfang – 500 Arbeitskräften. Die hat die Stadt mit einer Bürgerinitiative allein kämpfen lassen, sodass die dann irgendwann die Lust verloren haben und den Standort aufgegeben haben. Das bedaure ich sehr, weil das eine Initialzündung gewesen wäre. Die hatten sich selbst eine Brachfläche erworben und sind bis vor kurzem noch Eigentümer dieser Brachfläche gewesen in Dessau.

 

Kim Kamenik: Und glauben Sie, dass diese schwierige Ansiedlung teilweise die Auswirkungen davon heute noch spürbar sind?

Hans-Georg Otto: Na dadurch, dass die vorhandene Industrie im Rahmen der Privatisierung – wir haben ja 12 oder 13 Großbetriebe gehabt, die mindestens 2.000 bis 4.500 Beschäftigte hatten – dass davon im Grunde nur noch 1 oder 2 übrig sind, sind die Leute, die flexibel waren, die also nicht durch ein Haus gebunden waren, plötzlich keine Arbeit mehr, wenn die Betriebe bei der Privatisierung kaputt gegangen sind; und da sind die jungen Leute dann den Arbeitsplätzen nachgegangen. Ich sage immer noch: Es ist eine bewusste Treuhandpolitik gewesen, den Markt zu erobern hier, den der Osten hatte – also Waggonbau hatte ja einen großen Markt in der Sowjetunion und in China – den Markt wollte man haben – beim Zementanlagenbau (Seit dem 1.September 1957 firmierte der Anlagenbauer unter der Bezeichnung VEB Zementanlagenbau Dessau (…) In diesem Zeitraum lagen die Einführungen der verfahrenstechnischen Weiterentwicklungen aus dem Nass- zum Halbtrocken- und Trockenverfahren zur Herstellung von Zement, die ebenfalls von Dessau aus gemeistert wurden, zwischen dem Ende des 2. Weltkrieges bis zur deutschen Wiedervereinigung wurden gut 350 Anlagen produziert und weltweit geliefert. ZAB hatte als Marke einen sehr guten Ruf.; Anmerk. der Redaktion) genau das selbe – und man wollte die guten Arbeitskräfte haben, denn zu der Zeit, in der Wendezeit, waren auch die Arbeitskräfte in der alten Bundesrepublik schon knapp; und da waren die jungen Leute natürlich willkommen und unsere Leute waren gut ausgebildet – die wurden mit Kusshand genommen – und die sind weg. In der Zwischenzeit sind manchmal die Eltern nachgezogen, weil sie mit ihren Enkeln zusammen sein wollten, sodass also das ein riesen Aderlass für diese Stadt war, und deshalb heute eben mehr ältere Leute als junge Leute in der Stadt wohnen.

 

Kim Kamenik: Und glauben Sie, dass die Stadt deswegen auch so wenig Großbetriebe aufweisen kann, weil die friedliche Revolution eben die Krisensituation/das Ende für diese Betriebe bedeutete?

Otto Kamenik: Also ich mache die friedliche Revolution dafür nicht verantwortlich, sondern ich mache die Bundesregierung dafür verantwortlich und die Treuhand, die natürlich das, was die Bundesregierung beschlossen hat, umgesetzt hat. Ich habe selbst an Verhandlungen der Treuhand teilgenommen, wo Betriebe schon insolvent waren und wo wir gesagt haben: „Mit denen nicht weiter“, wo der Landesvertreter und der Insolvenzverwalter gesagt haben: „Mit den beiden Eigentümern nicht weiter“ und die Treuhand hat denen wieder frisches Geld gegeben. Die Schulden, die die bei der Stadt hatten – bei unseren Stadtwerken – sind immer größer geworden. Am Ende sind sie wieder insolvent gegangen und der Betrieb – ich spreche jetzt von Junkalor Dessau, der Messgeräte hergestellt hat, die heute noch am Weltmarkt gefragt sind – der ist den Bach runtergegangen. Ein ganz kleiner Teil hat sich am Ende heraus privatisiert, der aber nur noch – sag ich mal – 20% oder 15% der Produktpalette herstellt, die vorher mal war.

 

Kim Kamenik: Wie war das Gefühl, wenn man immer an diese Wende geglaubt hat und sie dann auf einmal kam? Vielleicht können Sie nochmal Ihre Gefühle ausdrücken?

Hans-Georg Otto: Ja, das war schon überwältigend. Also mich hat das wirklich überwältigt, weil ich war zum Prager Frühling 8 Tage mit meinen Arbeitskollegen über den 1. Mai und da war die Jugend aus Europa in Prag zu Gast und wir haben diese Euphorie mitgenommen. (emotional) Wir haben kaum geschlafen, weil wir nächtelang diskutiert haben. Das wurmt mich immer noch heute. Da sind meine Nerven zu schwach. Und diese Euphorie kam natürlich wieder hoch. Also ich war ja damals mordsmäßig enttäuscht, als die Russen einmarschiert sind und den Ostblock und den Prager Frühling im Keim erstickt hat. Wir hatten uns alle damals schon versprochen, dass es zum Aufbruch in Europa kommt; und als es dann plötzlich bei uns greifbar war, war das eine riesen Euphorie, und ich kann mich noch erinnern, dass meine Tochter einen Zettel auf die Treppe gelegt hat (emotional), dass wir ja am nächsten Tag zu Bekannten nach Berlin fahren, nach Westberlin. Wir wollten nicht am nächsten Tag gleich los, nachdem die Mauer offen war, aber wir haben es dann gemacht (emotional), das war eben eine tolle Sache.

 

Kim Kamenik: Das ist auf jeden Fall, für jemand der die Euphorie nie spürte oder nie spüren konnte, jetzt vielleicht mehr nachvollziehbar.

Hans-Georg Otto: Also viele Leute, die zur DDR-Zeit gesagt haben – Kollegen von mir – „Ach, wenn wir 2 deutsche Staaten bleiben, Hauptsache wir haben mehr Freiheiten. Mehr Reisefreiheiten und dann ist alles schon ok.“ Als sie dann die Reisefreiheit hatten und das erste Mal im Westen waren und nur die Fassaden gesehen haben, wir haben ja auch nicht gesehen, dass es dort Probleme gab, dann ging es denen allen nicht mehr schnell genug. Das war ja auch der Grund, weshalb ich dann auf dieser Delegiertenkonferenz in Berlin gesagt habe: „Also wenn ihr es nicht schnell macht, dann laufen die Leute weg und wir wissen nicht, wie lange das Zeitfenster in Russland offen ist“ … wenn Gorbatschow nicht gewesen wäre, hätte es diese friedliche Revolution zu der Zeit noch nicht gegeben.

 

Kim Kamenik: Und vielleicht noch die letzte Frage. Sie meinten ja, dass Sie wenige Handlungsspielräume bei diesen Wirtschaftsverhandlungen hatten. Trotzdem haben sie zum Teil in unseren Gesprächen beschrieben, dass sie sich trotzdem als Gewinner aus dieser Wendezeit beschreiben. Wieso?

Hans-Georg Otto: Na, ich beschreibe mich deshalb als Gewinner, weil, wenn die Wiedervereinigung nicht gekommen wäre – ich kenne, weil ich in der Energiewirtschaft für die Versorgungssicherheit von Buna-Leuna-Bitterfeld, Chemiekombinate, Mannsfeld-Kombinat zuständig war, Inspektionen in den Betrieben durchgeführt habe und die Betriebe kenne bis in die Keller – die waren am Ende, und wir hätten, wenn die Wiedervereinigung nicht gekommen wäre, heute rumänische Verhältnisse; und so wäre der ganze Ostblock völlig weggerutscht. Das verdanken wir der Wiedervereinigung, dass doch viel Geld aus dem Westen hier rein geflossen ist und unsere Städte heute anders aussehen und den Leuten geht es – im Grunde genommen – gut. Es gibt sicherlich auch Leute, denen es nicht so gut geht, aber die Masse aus der DDR-Zeit, selbst wenn sie frühzeitig in die Rente gehen mussten, haben dadurch einen gesicherten Lebensabend. Natürlich ist das nicht jedermanns Sache, mit 55 nicht mehr arbeiten zu können – also ich wäre auch nicht der Typ gewesen – die sind dann weiter unzufrieden. Wer aber schon mit 50 auf die Rente gewartet hat, der war froh, dass er mit 55 gehen konnte. Insofern gibt es Gewinner und Verlierer, aber insgesamt haben wir alle gewonnen; und wenn ich jetzt Dinge beklage, dann ist das nur ein Feststellen der Dinge, die man hätte besser machen können; aber nicht ein Beklagen, dass es überhaupt zu dieser Entwicklung gekommen ist.

 

Kim Kamenik: Und diese Krisenzeit des Waggonbaus hat sich ja auf das Leben der Beschäftigten ausgewirkt. Wie hat sich diese Krise dieser Dessauer Wirtschaft auf Ihr Leben ausgewirkt?

Hans-Georg Otto: Also auf mein Leben hat es sich nur insofern ausgewirkt, dass ich also versucht habe – der Waggonbau war ja nur der Anfang, bei der Magnetbandfabrik war klar, dass die überhaupt nicht existieren konnten, dass Zementanlagenbau nachher mit einem Auftragsvolumen von 2,5 Jahren im Voraus und mit einem riesen Bankguthaben von – ich glaube – 30 Millionen D-Mark an Glöckner-Humbold-Dolz für einen Apfel und ein Ei verkauft wurde und ein halbes Jahr später geschlossen wurde, hat ja noch niemand gesehen. Uns wurden ja blühende Landschaften versprochen. Das war natürlich eine Belastung, wenn man gesehen hat, dass Familien auseinandergerissen werden, dass Leute weggehen; wir haben dann auch noch Leute verloren, die dann endlich mal ein Haus bauen wollten, was in der DDR-Zeit nicht möglich war, weil wir kein Bauland hatten in Dessau; weil ich hatte das ja vorhin geschildert mit den Industrieflächen, dasselbe gilt für Wohnbauflächen. Der Leerstand in Häusern war noch nicht da. Wir haben noch nichts abgerissen. Es gab also keine freien Flächen, deshalb habe ich gesagt, also ich will, wenn ich in das Amt gewählt werde, dafür sorgen, dass wir Industrie- und Gewerbeflächen kriegen und preiswert anbieten können und dass wir preiswerte Wohnbauflächen schaffen. Das habe ich dann auch umgesetzt.

 

Kim Kamenik: Und haben die Leute manchmal Sie für die Krisenursache mit verantwortlich gemacht? Hätten Sie manchmal gehofft, mehr als Oberbürgermeister bewirken zu können?

Hans-Georg Otto: Ich hab ja gesagt, die DDR-Mentalität hat das mit sich gebracht, dass die Leute von dem Oberbürgermeister oder vom Parteisekretär zur DDR-Zeit Wunder erwartet haben. Die konnten mit einem Machtwort irgendwo etwas regeln; aber das ist in dieser Zeit nicht mehr möglich. Die Stadt kann nur Rahmenbedingungen schaffen im Rahmen ihrer Möglichkeiten handeln, aber sie kann nicht in die wirtschaftlichen Belange eingreifen und schon gar nicht in solche Entscheidungen wie von der Bundesregierung mit der Privatisierung durch die Treuhand.