WALTRAUD PRYZSTUPA

Interview mit Waltraud Przystupa, Konstrukteurin im VEB Waggonbau Dessau, der Waggonbau Dessau GmbH sowie der Fahrzeugtechnik Dessau GmbH von 1970 bis 1996

 

Kim Kamenik: Frau Przystupa, könnten Sie uns bitte schildern, was die Krise für den VEB Waggonbau Dessau eigentlich war?

Waltraud Przystupa: Ja, die Krise war, dass der Waggonbau Dessau eigentlich in der Marktwirtschaft so hätte nicht bestehen können und deswegen mehr oder weniger abgewickelt werden sollte. Es gab ja 2 gleichwertige Schienenfahrzeughersteller im westdeutschen und im ostdeutschen Raum – sag ich mal so – und einer war zu viel auf dem Markt und der Schwächere verliert dabei. Das ist logisch.

 

Kim Kamenik: Und wie wirkte sich diese Krisensituation auf ihr persönliches Leben aus und auch das der Beschäftigten und vor allem auch das soziale Miteinander?

Waltraud Przystupa: Ja, auf mein persönliches Leben erstmal dahingehend, dass ich vorher familiär bedingt 6 Stunden gearbeitet hatte. Jetzt kam die Wende, das heißt, der Tarifvertrag für die Ostdeutschen wurde von Niedersachsen übernommen. Es gab dann die D-Mark und mit diesem Wechsel in die D-Mark hieß es: „Wir haben jetzt nicht mehr genug Geld zur Verfügung. Wir rubeln jetzt die Arbeitszeit um, dass der Lohn in dem Verhältnis bleibt.“ Aber das bedeutete für mich dann, statt der 6 Stunden bloß 5,5 Stunden zu arbeiten, und mit der nächsten Tariferhöhung ging das dann so weit, dass ich hätte auf 5 Stunden runter gehen müssen, und das ist natürlich nicht vertretbar, denn erstens Mal: Da stand ja im Hinterkopf immer, dass man eventuell arbeitslos wird. Das Arbeitslosengeld wurde nach dem letzten Gehalt berechnet und das wäre dann noch weniger geworden und deswegen bin ich praktisch an meinen Chef herangegangen und hab gefragt, wie es aussieht, ob ich wieder zumindestens auf diese 6 Stundenbasis zurückkehren kann, und daraus entstand dann die Sachlage, dass ich dann Vollzeit beschäftigt wurde und dass in Abwägung mit meinem Mann dann auch so durchgeführt habe. Es bedeutete ja einen familiären Einschnitt, denn mein Mann war ja gleich nach der Wende mehr oder weniger zuhause. Er war einer derjenigen, die halb verloren haben – sag ich mal so – nicht so ganz.

 

Kim Kamenik: Sie sprachen jetzt gerade schon an: Verlierer und Gewinner. Wen sehen Sie denn als Gewinner an und wen als Verlierer.

Waltraud Przystupa: Als Gewinner sehe ich die an, die gesichert weitergehen konnten entweder in einen Vorruhestand oder Altersübergang, die sich damit erstmal mit dem Finanziellen abfinden konnten, oder die weiter in Beschäftigung waren. Das waren die Gewinner. Verlierer waren alle, die keine Beschäftigung fanden, und psychische Verlierer waren auch viele von denen, die in den Vorruhestand gehen mussten oder in den Altersübergang, weil sie ja mehr oder weniger von jetzt auf nachher in das Nichtstun geschickt wurden, nicht in die Arbeitslosigkeit sondern ins Nichtstun geschickt wurden. Es gab ja viele Leute, die waren vorher jemand, hatten eine bestimmte Stellung inne und waren plötzlich nichts. Ja und identifiziert sich ja eigentlich jeder über seine Arbeit, über seine Wertigkeit und die war weg.

 

Kim Kamenik: Und wie wirkte sich jetzt diese Krisen- und Umbruchsituation auf das Miteinander aus?

Waltraud Przystupa: Ja, das ist ganz logisch. Vorher war ein gewisses Level da. Alle hatten fast das Gleiche, entweder gleich wenig oder gleich viel. Ja, damit verstand man sich ganz gut und jetzt gab es ja diese Differenzen. Es gab die, die ganz unten waren, und es gab welche, die ganz ganz oben waren, und damit ist es ganz logisch, dass man sich eigentlich nicht mehr so freundschaftlich begegnete, denn unterschiedliche Schüsseln schaffen unterschiedliche Brüder und lässt Neid erwachsen.

 

Kim Kamenik: Und wie wirkte sich jetzt diese Umbruchs- und Krisenzeit auf Ihr Arbeitsleben aus? Hat sich da etwas geändert in der Tätigkeit?

Waltraud Przystupa: Die Tätigkeit war die gleiche – etwas angespannter, das ist logisch. Ja, aber es war eigentlich die gleiche Arbeit.

 

Kim Kamenik: Und haben Sie irgendwie andere Arbeitsmittel bekommen?

Waltraud Przystupa: Ja, Computer. Die Computer kamen praktisch gleich mit der Wende zu uns, weil damit auch schneller zu konstruieren war als alles per Hand am Brett und diese Computer bedeuteten für uns eigentlich noch ein bisschen mehr Stress, denn: „learning by doing.“

 

Kim Kamenik: Und 173 übernommene Arbeitnehmerinnen und Arbeiter der Fahrzeugtechnik haben sich ja insgesamt mit einer Million an dieser Gesellschaft sozusagen beteiligt. Können Sie uns schildern, wie sich das angefühlt hat, ja quasi zu investieren, was man gerade erst bekam?

Waltraud Przystupa: Ja, das waren eigentlich die Abfindungen aus dem Waggonbau Dessau. Jeder der entlassen wurde, kriegte eine Abfindung entsprechend seiner Betriebszugehörigkeit und es war erwünscht, sagen wir mal so, in die neue Fahrzeugtechnik, wenn man dort einsteigt, auch mit zu investieren, und wir wurden dann, die Belegschaft wurde dann stiller Teilhaber, das heißt, wir waren Aktionäre. Wir bekamen für unser eingezahltes Geld eine Aktiensumme und über diese Aktiensumme gab es auch jahrelang Dividende. Also es war eigentlich kein Verlustgeschäft.

 

Kim Kamenik: OK, aber trotzdem war ja ein gewisses Risiko?

Waltraud Przystupa: Das Risiko ist wie bei jeder Aktie da, ja. Die letzte (Dividende, Anmerk. der Redaktion) kam, als die Aktien dann verkauft werden mussten mit der Insolvenz. Also aus der Insolvenzmasse kam dann ein ganz geringer Betrag noch für jede Aktie, ja.

 

Kim Kamenik: Wie wirkte sich die Umbruchszeit auf ihr persönliches Leben und das der Beschäftigten aus?

Waltraud Przystupa: Ja, das war ja so, dass jeder die Angst um seinen Arbeitsplatz hatte. Keiner wusste, wie und wo arbeite ich morgen, habe ich überhaupt noch eine Arbeit oder bin ich ein toller Verlierer hier auf dieser Strecke. Es gab ja dann Leute, es gab auch bei uns gleich Leute, junge Leute, die unabhängig waren, die sich sofort in weiter Ferne Arbeitsplätze gesucht haben, die dort auch gut, weil sie ja auch gut ausgebildet wurden, gerne angenommen wurden, muss ich sagen.

 

Kim Kamenik: Und wie wirkte sich das auf ihr persönliches Leben aus, noch einmal gefragt?

Waltraud Przystupa: Ja, mein persönliches Leben war natürlich auch erstmal davon geprägt: Behalte ich meine Arbeit? Werde ich irgendwo übernommen? Existiert der Waggonbau weiter oder wird der Waggonbau total abgewickelt? Entsteht aus dem Waggonbau noch etwas anderes? Und wie sieht es aus? Habe ich dann noch weiter eine Beschäftigung? Und deswegen habe ich erstmal gesehen, dass ich aus meinen 6 Stunden Arbeitsvertrag, der ja in Folge der Einführung des Tarifvertrages von Niedersachsen und der D-Mark praktisch immer runter ging, weil ja das Geld nicht mehr werden durfte und deswegen meine Arbeitszeit immer niedriger wurde, habe ich versucht, wieder höher zu kommen in meiner Arbeitszeit, weil ja das Arbeitslosengeld, sich hätte sonst berechnet aus der Summe aus dem letzten Gehalt und deswegen entstand für mich dann die Situation, dass ich dann zum Glück, wieder den ganzen Tag arbeiten konnte, also eine Vollbeschäftigung hatte; und das war mein Gewinn.

 

Kim Kamenik: Somit haben Sie auch mit dem Gedanken gespielt, eventuell auch arbeitslos zu werden?

Waltraud Przystupa: Ich denke mal, damit hat jeder gespielt. Es sei denn, er war in der Chefetage.