MATTHIAS PUTZE
Interview mit Matthias Putze, Betriebsratsvorsitzender von 1989 bis 1995
Kim Kamenik: Herr Putze, können Sie uns bitte schildern, was die wirtschaftliche Krise für den VEB Waggonbau Dessau verursachte?
Matthias Putze: Ja. Wir befinden uns ja damals in der Wendezeit. Die Bevölkerung in der DDR wollte die politische Wende. Sie waren mit dem System nicht mehr einverstanden. Es ergab sich die Möglichkeit, dass Deutschland wieder zusammenkommt und eins wird (…) und dass das auf die Wirtschaft große Auswirkungen haben wird. Wir waren monostrukturiert mit unseren Produkten – Kühlfahrzeuge; und dort im Hauptabsatzland war die Sowjetunion, die früher oder später wegfallen musste aufgrund der extrem gestiegenen Kosten für unsere Produkte; und das hat die wirtschaftliche Krise ausgelöst, weil kein Betrieb in der Lage ist, von heute auf morgen Fertigung komplett umzustellen.
Kim Kamenik: Könnten Sie uns bitte Ihre Handlungsspielräume erklären, während Sie der Betriebsratsvorsitzende in der Waggonbau Dessau GmbH waren, und Ihre Tätigkeiten des Kampfes für den Erhalt?
Matthias Putze: Nun gut. Es ist im Kapitalismus so, dass Arbeitnehmervertreter, und das sind Betriebsräte und auch Gewerkschaften, nicht unbedingt bestimmen, wo es lang geht. Das machen andere. Das machen die Politiker und das machen diejenigen, die das Geld im Kapitalismus haben – aber man hat Möglichkeiten. Man hat Möglichkeiten auf gesetzlicher Grundlage aktiv zu werden und es hilft in jedem Fall, wenn man Belegschaften hinter sich hat und Publicity erzeugt und einen Vorschlag hat, wie es anders gehen könnte. Und als Betriebsratsvorsitzender war ich eben in der Verantwortung, mir was einfallen zu lassen. Es geht ja nicht, dass ein Betrieb einfach geschlossen wird und es keine Alternative gibt, außer einem Bagger und die Planierraupe.
Kim Kamenik: Woher nahmen Sie die Motivation, so für den VEB Waggonbau zu kämpfen und auch für die Geschichte?
Matthias Putze: Wenn man die Historie ein bisschen kennt, dann weiß man, dass Dessau mal eine sehr hervorragende Industriestadt war. Wir hatten hier Hugo Junkers. Wir haben im Waggonbau nach dem Krieg wieder angefangen mit vielen Junkers-Leuten und das war so etwas wie ein sehr ordentlicher Betrieb in Dessau, wo jeder gern gearbeitet hat und der für alle Mitarbeiter auch gut gesorgt hat; und wir haben auch gutes Geld verdient, das muss man ganz ehrlich sagen. Und es geht nicht, dass ohne jeglichen Plan so ein Betrieb geschlossen wird. Ich hatte gelesen, dass 1929 in der Weltwirtschaftskrise hier noch 50 Leute beschäftigt waren, und habe gesagt, dass kriegst du auch hin – mindestens 50, es sind nachher 174 geworden von 835, und die Motivation war einfach, wenn man den Leuten ins Gesicht geschaut hat, dann musste man was tun, damit hier was bleibt.
Kim Kamenik: Können Sie uns Ihre Tätigkeiten erklären oder einige Aktionen, die sie starteten, um für den Erhalt hier zu kämpfen?
Matthias Putze: Nun gut. Ich hatte ja gewissen Vorteile, dass ich Mitglied des Aufsichtsrates hier in der GmbH war, aber auch im Konzern in Berlin. Somit hatte ich also frühzeitig alle Informationen und konnte daraus meine Schlüsse ziehen. Zum zweiten muss man da auch ein bisschen Ruhe haben, zu überlegen, was macht man. Es kann nicht sein, dass man nur die rote Fahne rausholt und Palermo macht, sondern man muss mit einem Vorschlag kommen, der akzeptabel ist, der finanzierbar ist, das ist im Kapitalismus so, und den nicht einfach jemand vom Tisch wischen kann; und diesen Vorschlag…
… da hatte ich mir etwas ausgedacht mit dem Kernbetrieb – damals Waggonfabrik oder Fahrzeugtechnik im Späteren – mit der Auffanggesellschaft, der Beschäftigungsgesellschaft und mit einer Standortgesellschaft, die die Flächen und die Hallen, die übrig blieben, vermarktet und das ist meine Idee gewesen und da hatte ich später dann viele Unterstützer. Es gab natürlich seitens der Treuhand und seitens bestimmter Beauftragter der Treuhand massiv Front dagegen, aber wir haben das mit vielen und letztlich mit den Belegschaftsmitglieder durchgesetzt, dass dieses Modell umgesetzt worden ist und dann letztlich auch finanziert worden ist.
Kim Kamenik: Sie sprachen ja schon ein paar Mal davon, dass Sie Publicity erzeugen wollten. Dafür starteten Sie ja auch bestimmte Aktionen. Können Sie nur 1-2 nennen und kurz erklären, warum es dazu kam?
Matthias Putze: Naja, es geht ja nicht anders. Man kann lange reden. Man kann sich auch unterhalten mit erwachsenen Leuten und mit Vorständen und Aufsichtsräten und irgendwann ist aber auch Schluss, weil es muss ja keiner auf einen Herrn Putze hören; und deswegen muss man sich überlegen, was man macht, und da ist die Öffentlichkeit immer ganz gut. Es war Februar, das Wetter war kalt, ich hab mich draußen angekettet und hab gesagt: “OK, ich verlege meinen Arbeitsplatz nach draußen, solange bis hier eine Lösung gefunden wird für den Standort.” Unser Vorschlag stand und das hat dann natürlich auch ein bisschen dazu geführt, dass Presse, Rundfunk über uns berichtet haben und es dann sowas wie ein Einlenken seitens der Verantwortlichen gab, zumindestens mit uns darüber zu reden.
Kim Kamenik: Diese Krisensituation hat ja auch immer auf eigene persönliche Leben Auswirkungen. Vor allem bei der Umstrukturierung dann zur Fahrzeugtechnik, gab es ja Schwierigkeiten, da nur 173 (Beschäftigte, Anmerk. der Redaktion) übernommen werden konnten. Was für Auswirkungen hatte diese Krise auf Ihr persönliches Leben gehabt und was waren die Schwierigkeiten auch bei der Übernahme der Mitarbeiter?
Matthias Putze: Also jede Krise steht ja auch im Kontext zu einer Chance und es gibt immer Chancen, die man wahrnehmen kann, die man aber nicht wahrnehmen muss, oder mancher will auch Chancen nicht wahrnehmen. Wir hatten das Problem, ein Konzept entwickelt zu haben, was ausreichte für 173 Beschäftigte. Es geht hier um Aufträge und Finanzierung; und das war ausgearbeitet verhandelt. Es blieben also Leute übrig und deshalb diese Auffanggesellschaft, um die zwischen zu parken, um ihnen Chancen zu eröffnen in anderer Beschäftigung, und es ist dann schwierig, das entsprechende Personal auszusuchen dafür. Es ist eins ganz klar, dass wir gesetzliche Bestimmungen haben hier in Deutschland, und das nächste Thema ist aber auch, dass ich einen Neubetrieb nicht starten kann nur mit Personen, die vielleicht sozialer zu betrachten sind und fürsorglicher zu behandeln sind; und das gibt einen gewissen Widerspruch auch im Kopf. Ja, wir haben uns dafür entschieden, Leute mit zu übernehmen aufgrund ihrer – ja, ich sag mal – sehr schlechten sozialen, wirtschaftlichen und auch vielleicht geistigen Verfasstheit und wir haben uns entschlossen, Leute gehen zu lassen, die uns signalisiert hatten, eine bessere Zukunft vielleicht im Westen zu finden, die wir im Waggonbau gerne gebraucht hätten; und das muss man voreinander bringen und das haben wir auch einigermaßen ordentlich voreinander gebracht.
Kim Kamenik: Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen, wo Sie jemanden geholfen haben bei der Übernahme, ohne dass er vielleicht der optimale Arbeiter war?
Matthias Putze: Jaja, wir hatten eine Familie, das wusste jeder, Mann und Frau und noch eine große Anzahl von Kindern, wo vielleicht so die schulische Ausbildung nicht allzu gründlich war oder – ich will das jetzt nicht anders ausdrücken – und es war uns aber auch klar, wenn der Mann keine Arbeit hat, dann stürzen die komplett ab; und da waren wir uns mit den Verantwortlichen in der Fahrzeugtechnik recht zeitig einig, dass der Kollege weiter beschäftigt wird und wir könnten ja zu dem Zeitpunkt nicht sagen, dass er eigentlich der 1. war, der das Ticket in die neue Firma hat, sonst wäre es ja nicht fair gegenüber den anderen gewesen.
Kim Kamenik: Da sprechen Sie gerade schon an, dass sich das soziale Miteinander durch diese Situation auch verändert hat. Können Sie kurz schildern inwieweit?
Matthias Putze: Ja, es fühlen sich manche als Gewinner, manche haben sich als Verlierer gefühlt. Manche haben die Chance wahrgenommen, andere haben die Chance nicht wahrgenommen. Wir konnten zwar zumindestens jedem ein Angebot unterbreiten, ob es immer das Angebot war, was für ihn persönlich oder für die Kollegin persönlich das optimale war, das glaube ich nicht, aber wir haben keinen im Regen stehen lassen und es ist schwierig, genau in solcher Situation Möglichkeiten zu finden. Die Alternative wäre gewesen: Hier nichts mehr bleibt …
Wir stehen heute 22 Jahre später, oder 25 Jahre später an einem Standort, der wieder entwickelt ist, der sich wieder aufgerappelt hat, ja, und das war das Ziel.
Kim Kamenik: Aber kam es bei den Mitarbeitern untereinander auf einmal auch irgendwie zu Schikane oder Unmut, weil sich einer bevorzugt gefühlt hat?
Matthias Putze: Wir haben das nicht offen erlebt. Ich möchte das aber nicht ausschließen, dass es in den Abteilungen Diskussionen gegeben hat, warum ist der oder die gerade dabei und, ja, das ging durchaus auch so weit, weil wir brauchten natürlich auch Frauen, also Kolleginnen in dem Betrieb, und dann weiß man, dass, wenn Frauen untereinander sich hacken, da manches Mal auch böses Blut hoch kommt oder Gerüchte verbreitet werden. Also ich will das nicht ausschließen, es gab aber keine offenen Szenen. Das muss man so eindeutig sagen und ich hatte auch mehrheitlich das Gefühl – weil wir immer ehrlich mit den Leuten umgegangen sind – dass das, was wir erreicht haben, vielleicht nicht das Optimale war aber das zu diesem Zeitpunkt Machbare und alle anderen irgendwie auch gesagt haben: „OK, der hat es versucht oder der Betriebsrat mit der IG Metall. Es ist was übrig geblieben und jetzt schauen wir, wo es hin sich entwickelt.“
Kim Kamenik: Was glauben Sie, hatten sie – sage ich jetzt Mal – für Eigenschaften oder tatsächlich auch für Talente, um so viele Menschen mit zu bewegen und dann doch hier etwas zu erhalten?
Matthias Putze: Naja, grundsätzlich. Irgendwas kann jeder. Das trifft für mich auch zur. Mit Talent weiß ich nicht. Ich bin vielleicht in der Lage, wenn ich von einer Sache überzeugt bin, andere zu motivieren. Ich habe gute Argumente und wenn ich mich einmal festgebissen habe, dann bleibe ich auch dabei. Also ich hab wenig Angst vor irgendwas. Das war damals so und das war heute so; und es ist schon, wenn man eine Aufgabe hat, für Menschen zu sorgen, dann ist das schon Motivation genug einfach auch nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Ich stand in der herausragenden Position als Vorsitzender des Betriebsrates. Ja und da musst du einfach Gas geben und da muss irgendetwas bleiben; und eitel bin ich auch. Das sage ich so ganz ehrlich. Also ich wollte natürlich auch was erreichen, ja.
Kim Kamenik: Herr Putze, können Sie uns bitte nochmal schildern, welche Tätigkeiten Sie ausübten, um den Erhalt des VEB Waggonbau Dessau zu retten?
Matthias Putze: Also neben der Ausarbeitung eines Grobkonzeptes, der Vorstellung des Grobkonzeptes bei den Entscheidern – Treuhandanstalt, Vorstände, Aufsichtsräte – und zahlreichen Diskussionen dazu war es natürlich irgendwann erforderlich, Öffentlichkeit zu erzeugen, weil Öffentlichkeit erzeugt einen gewissen Druck; und wir waren gut präpariert. Wir hatten viel gearbeitet mit Presse, Medienvertretern und letztlich muss man irgendwann ein Zeichen setzen. Ich hab mein Büro nach außen verlagert, hab mich am Werkstor angekettet, hab mir ein Telefon hingestellt und hab gesagt: „So, ich möchte einen Anruf haben von unserem Vorstandsvorsitzenden, dem Herrn Witt, dass wir zu konstruktiven Verhandlungen kommen und erst dann räume ich mein Büro.“ Ich muss den Pressevertretern, dem Fernsehen ein großes Lob machen. Sie haben natürlich Aufnahmen gemacht, wie ich mich abends 20 Uhr im Schneetreiben Schlafen lege, mit der Kette angebunden, und theatralisch. (…) Am nächsten Tag gab es dann den Anruf, dass man spricht, und wir haben versucht durch unsere Veranstaltungen 5 vor 12 – die Belegschaft war jeden Tag 5 Minuten vor 12 Uhr vor dem Betriebstor. Aber auch unsere 100 Jahrfeier, die anstand, mit 2 weißen Elefanten in der Demonstration weiter an Öffentlichkeit zu halten, damit der Druck nicht abebbt. Wir waren auch in Berlin. Da hat mich die Belegschaft bei einer Aufsichtsratssitzung unterstützt. Da waren alle 800 Beschäftigte da; (…) jede Woche hatten wir eine gute Presse – das muss man so sagen – und das hat geholfen; und ich habe das auch ausgenutzt und vielleicht auch die eine oder andere versteckte Drohung darüber kommuniziert. Ja, so wie ein Trip nach Boston. Advent International sollte die DWA damals kaufen. Ich rede doch ganz gut Englisch – das habe ich früher auch gekonnt – und wusste, was ein Ticket nach Boston kostet und wäre da auch rübergeflogen und hätte demonstriert mit meinem Schild in der Hand; und das hat dann doch den ein oder anderen bei der Treuhand so ein bisschen sensibilisiert, mit uns wie vernünftige Mensche zu reden. Ja und da hat mir die Öffentlichkeit und die Belegschaft und auch die IG Metall sehr geholfen.