SIEGFRIED MÖBIUS
Interview mit Siegfried Möbius, Betriebsdirektor des VEB Waggonbau Dessau von 1986-1989 und Geschäftsführer im Jahr 1990
Kim Kamenik: Könnten Sie uns bitte schildern, worin die Krise für den VEB Waggonbau Dessau explizit bestand und was sie verursachte?
Siegfried Möbius: Ja, das kann ich. Die Krise ist ja nun inzwischen 30 Jahre her. Die Hauptursachen dieser Krise waren darin zu sehen, dass der damalige Markt für Kühlfahrzeuge fast vollständig zusammengebrochen ist. Der Betrieb war 1990 in der Lage, im Laufe seiner 40- oder 50-jährigen Geschichte Höchstleistung zu fahren, und der Hauptmarkt war für Kühlfahrzeuge die damalige Staatseisenbahn der Sowjetunion MPS.
Wir haben an MPS, also die Eisenbahn der Sowjetunion, circa 51.000 Fahrzeuge geliefert. Wir haben an alle anderen Märkte, das waren zum Beispiel 15 Länder innerhalb und außerhalb Europas, circa 15% der Gesamtleistung geliefert. Es war also praktisch 1990 nicht möglich, diesen weggebrochenen Markt, der zu 100% insgesamt dann wegbrach, überhaupt zu ergänzen. Wir hatten zum Zeitpunkt 1990 circa 3.200 deutsche Beschäftigte; wir hatten 388 Chinesen; wir hatten 200 Volksarmisten und noch einige Polen; und hatten zusätzlich zur Abdeckung der notwendigen Kapazitäten Kooperationen mit der belgischen Firma WN in Brüssel.
Wir hatten in den Jahren zuvor, von 1986 bis 1989, circa 170 Millionen Investitionen getätigt. Das waren also 6 neue Hallen, die wir unbedingt brauchten, und wir hatten die Verbindung zu China auf eine dreifache Art und Weise organisiert. Wir lieferten erstens 1.000 Kühlwagen nach China; wir hatten zweitens 2.388 chinesische Facharbeiter im Betrieb beschäftigt; und wir führten drittens Technologietransfer durch. Technologietransfer hieß: Die chinesische Eisenbahn hat den Waggonbau Dessau weltweit ausgesucht unter den Betrieben, die die beste Technologie hatten, und wir hatten zu bieten: Sandwichtechnik für Kühlfahrzeuge. Das war einmalig in sofern, dass wir mit Hilfe der Sandwichtechnik eine Garantie gegen Durchrostung geben konnten von 30 Jahren, bei Verwendung von fast normalen Stahlsorten.
Wir hatten im Betrieb zu diesem Zeitpunkt täglich 4.000 Essen (Mahlzeiten, Anmerk. der Redaktion) deutsch und 400 Essen chinesisch. Es gab täglich 24 Wahlessen, nachts 3 Wahlessen kostenlos. Für die Chinesen hatten wir mit Hilfe der Finanzmittel, die wir besaßen, 90 Wohnungen bauen lassen in Dessau, sodass alle Chinesen sehr gut untergebracht waren. Es gab keine Probleme. Jeder junge Chinese hatte eine deutsche Patenfamilie und beim Abschied nach 4 Jahren gab es in der Regel Tränen.
Die Veränderung am Markt war also radikal, sodass man mit Sicherheit wusste: Man kann diese Veränderung nicht ausgleichen, nicht 100%ig. Wir haben uns bemüht, sofort neue Kooperationspartner zu finden, um die Anzahl der Kündigungen gering zu halten. Ich habe also persönlich 1990 den Herrn Dürr, damals AEG-Vorsitzender (Heinz Otto Dürr (* 16. Juli 1933 in Stuttgart) ist ein deutscher Unternehmer und Manager. Er ist Großaktionär der Stuttgarter Dürr AG. Von 1980 bis 1990 war er Vorstandsvorsitzender des AEG-Konzerns. Ab 1991 war er Erster Präsident der Deutschen Bundesbahn, ab 1. September 1991 auch Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn. Mit der Zusammenführung und privatrechtlichen Organisation der beiden Bahnen in der Deutschen Bahn AG im Rahmen der Bahnreform wurde er Vorstandsvorsitzender des neuen Unternehmens. Diese Position hatte er bis 1997 inne; Quelle: Wikipedia, Anmerk. der Redaktion), nach Dessau eingeladen. Der hat uns besucht, fand das Werk prima, aber hatte leider keine Aufträge. Der Herr Dürr wurde dann später Chef der Bundesbahn und da war es hilfreich, dass wir uns schon kannten. Wir haben auf anderen Gebieten versucht Aufträge zu holen, haben zum Beispiel zusammen mit Linge, Hoffmann, Busch in Salzgitter die Straßenbahnen in Magdeburg gebaut. Wir haben einen Vertrag mit Kombiwaggon in Älthüll im Rheinland geschlossen, über die Lieferung von 1.000 Containerwagen, und wir haben auf Wunsch von Herrn Dürr Schienenbusse gebaut – der Doppelstock-Schienenbus, den jeder Dessauer kennt – allerdings nur in einer geringen Stückzahl von 7 Fahrzeugen und wir haben dann Mitte der 90iger Jahren hier in Dessau auch wieder Güterwagen gebaut.
Es ist ein großes Problem, eine spezialisierte Produktion von Kühlwagen, wie wir sie hatten, sofort zu ändern. Die Kühlwagen mussten ja Bedingungen erfüllen; Motoren und Kühlanlagen absolut zuverlässig arbeiten bei -45 bis +45 Grad; und der Thermoswagen, der in einer Stückzahl von 2.500 gebaut wurde, hatte die Aufgabe, ohne Energieversorgung bei großen Temperaturdifferenzen, also 35 Grad Außen-Innen-Differenz, mindestens über 24 Stunden nur eine Temperaturveränderung von +/- 1 Grad zuzulassen. Das war also weltweit einmalig.
Bei der Umstellung zur Wendezeit haben wir natürlich gut mit der Stadt (Dessau, Anmerk. der Redaktion) zusammengearbeitet, mit dem damaligen Oberbürgermeister Herr Neubert, mit dem Herrn Otto (Oberbürgermeister, Anmerk der Redaktion). Große Hilfe war uns zum Beispiel auch der Herr Radeloff. Wir kriegten Unterstützung aus dem Bundeskanzleramt; der Ludewig, damals Chef des Bundeskanzleramtes, hat ein Buch geschrieben: „Unternehmen Wiedervereinigung“. Da sind viele Aspekte berücksichtigt, die eine Rolle spielten, und Einsichten, die auch jetzt erst gekommen sind bei ihm. Ich habe weiterhin Verbindung zum Doktor Ludewig, weil das ein sehr hilfreicher Mann für uns war und versucht hat, Wege zu ebnen. Wir haben versucht, der russischen Eisenbahn MPS zu helfen mit Krediten. Die Kredite wurden als Vorzugskredite gewährt, nachdem wir uns dafür eingesetzt hatten. Unter anderem eine wesentliche Hilfe in Bonn: Doktor Schomerus, Staatssekretär. Aber diese Sonderkredite zu Vorzugsbedingungen hießen für die russische Seite pro Jahr 15% Zinsen. Mehr muss man dazu glaube ich nicht erklären, was das bedeutet. Das war also für die Zukunft nicht so sehr hilfreich.
Wir versuchten dann eine Lösung zu finden, indem in Dessau auf dem Gelände des ehemaligen VEB Waggonbau Dessau erstens eine Aktiengesellschaft entstand, zweitens ein Industriepark, sehr unterstützt vom Wirtschaftsminister Doktor Schucht. Innerhalb des Industriepark wurden die Gewerke angesiedelt, die früher alle im Waggonbau zuhause waren, also Elektriker, Hydrauliker, Maler, Auszubildende. Das ist gelungen, etwa in einer Größenordnung, dass an Stelle von rund 3.500 Waggonbauern auf dem Gelände des Waggonbaus Mitte der 90iger Jahre etwa 1.200 Beschäftigte tätig waren. Natürlich nicht nur ehemalige Waggonbauer, sondern auch andere wie zum Beispiel von der DVV.
Kim Kamenik: Und warum konnte man die Kühlwagen nicht auf bundesdeutschem Gebiet weiter vertreiben?
Siegfried Möbius: Die Bundesrepublik Deutschland liegt ja Mitten in Europa und ist für schnelle und zuverlässige Transporte gekennzeichnet, dass vorwiegend LKW-Transporte, auch Kühltransporte, durchgeführt werden. Ich habe hier eine Übersicht, die sieht echt bunt aus. Wir haben für europäische Eisenbahnen mit einer Ausnahme – zwei Ausnahmen, Korea und Kuba – insgesamt geliefert circa 5.000 Fahrzeuge im Laufe von 40 Jahren. Es gab als in Deutschland und Europa kaum Bedarf an Eisenbahnkühlfahrzeugen. Die letzten, die größere Bestände gekauft haben, waren die schweizerischen Bundesbahnen, die rumänische Bahn und die griechische Bahn. Die Schweiz hat als InterFrigo insgesamt 651 Kühlwagen bei uns gekauft, die Griechen haben 1.000 Kühlfahrzeuge insgesamt gekauft und die Rumänen 798. Das sind also Stückzahlen, die überhaupt nicht ausreichten, die Kapazität des Betriebes auch nur annähernd auszuschöpfen. Auch die 1.000 Fahrzeuge für Container für Kombiwaggon waren also in Kühlfahrzeuge umgerechnet vielleicht 200 Fahrzeuge wert; und für 200 Kühlfahrzeuge haben wir circa 35 Tage gebraucht, um die zu produzieren.
Kim Kamenik: Also bestand das Problem auch darin, dass man die Produktion nicht so schnell umstellen konnte?
Siegfried Möbius: Nein, die Produktion ist so schnell nicht umstellbar. Diese Kühlfahrzeuge hatten also Eigenschaften, die über Jahre erst erworben wurden. -45 bis +45 Grad heißt zum Beispiel, dass Dichtgummis auch funktionieren müssen bei -45 Grad, auch bei +45 Grad; und das zum Beispiel die Heizung – die Kühlwagen heißen ja Kühlwagen, die sind eigentlich Isotherm-Wagen; die können also auch bestimmte Temperaturen erreichen als Heizwerte in Polargebieten. Der Dieselkraftstoff geliert bei -20 bis -25 Grad und wir müssen sicherstellen, dass die Dieselmotoren auch bei -45 Grad anspringen. Das heißt, wir hatten also Heizungen eingebaut und keine Elektroanlassung, sondern Druckluftanlassung, sodass der Dieselmotor, ob er wollte oder nicht, anspringen musste. Und die Erprobung dazu haben wir über Jahre in Wien Arsenal in der europäischen Versuchswerkstatt der Eisenbahn geführt.
Kim Kamenik: Also war sozusagen das Problem auch, dass man einfach auf dem europäischen Raum die Kühlwagen gar nicht mehr gebraucht hat, weil man schon umgestellt hatte auf LKWs, und im russischen Raum einfach das Geld auch nicht mehr da war, diese zu bezahlen?
Siegfried Möbius: Das ist so. Im russischen Raum gab es ein richtiges Durcheinander in der Wirtschaft. Die spezialisierten Fabriken gehörten jeweils einzelnen Unionsrepubliken und die arbeiteten nicht mehr zusammen und die russische Eisenbahn hat natürlich auch eigene Werke gehabt, zum Beispiel in Brjansk (russisch: Брянск; ist eine Stadt und Verwaltungszentrum der gleichnamigen Oblast in Russland, rund 380 km südwestlich von Moskau; Quelle: Wikipedia; Anmerk. der Redaktion). In Brjansk gab es ein Kühlwagenwerk, das hat neben Kühlwagen große Dieselmotoren hergestellt und mit den Diesellokomotiven aus dem Werk waren wir ja auch über Jahre verbunden. Also für diesen Notfall war die russische Eisenbahn auch in der Lage selbst Kühlfahrzeuge herzustellen. Und in Russland sagt man: „1.000 Kilometer, das ist das letzte kleine Stückchen, was zu fahren ist“, um mal die Dimensionen deutlich zu machen. Es gelten also in diesem riesen Land ganz andere Bedingungen; und 3 Tage mit der Eisenbahn fahren ist für die Russen fast normal. Bei uns ist das außergewöhnlich. Wir konnten nach Russland liefern, wir konnten sichere Fahrzeuge anbieten, sicherere Touren, sicherere Kühlanlagen aber das war in Europa in dieser Form nicht gefragt.
Kim Kamenik: Von 1986 bis 1989 waren sie ja Betriebsdirektor des VEB Waggonbau Dessau und wurden im Zuge der Umstrukturierung 1990 zum Geschäftsführer der Waggonbau Dessau GmbH. Herr Möbius könnten Sie uns bitte Ihre Tätigkeitsbereiche während der Umbruchs- und Krisenzeit aufzeigen? Welche Handlungsspielräume besaßen Sie, das Unternehmen und die Beschäftigten zu retten? Und blieben Ihnen Geschicksale besonders im Gedächtnis?
Siegfried Möbius: Ja, das ist natürlich eine Frage, da kann man sehr umfangreich antworten. Ich will es mal in Kurzform machen. Ich habe 1964 im Waggonbau angefangen, als junger Diplomingenieur im Bereich Rohbaufertigung, wurde dann mit 26 Jahren Abteilungsleiter der Leichtmetallwerkstatt, die Kühlwagen hatten damals Innenauskleidung aus Alu, übernahm 1967 mit 27 Jahren den Bereich Rohbaufertigung mit etwa 600 Beschäftigten, 1971 wurde ich Produktionsdirektor bis 1978, ich hatte vorher gesagt, ich mache das nicht ewig. 1979 brauchte das Werk einen neuen Chefkonstrukteur, da ich Konstruktion studiert hatte, übernahm ich mit Zureden diese Funktion. 2 Jahre später wurde ich Technischer Direktor, das heißt also, zur Konstruktion kam also die gesamte Technologie, Versuchsbau und Vorrichtungsbau dazu, und zur Wendezeit war ich dann als Werksdirektor Geschäftsführer geworden. Werksdirektor wurde ich 1986 in Abwesenheit. Als ich in China war, wurde mir mitgeteilt, ich müsste eine Woche früher nachhause fahren, ich wäre seit gestern Werksdirektor.
Zwischenzeitlich hatten sie den ehemaligen Werksdirektor, den Herrn Groß, abgelöst – der war Generaldirektor und hatte sich über Konsumgüter mit der Partei und Regierung zerstritten. Die Belegschaft in Dessau und die Belegschaft des Kombinates – übrigens, das Kombinat bestand aus 20 Betrieben mit rund 24.000 Beschäftigten – wollte den Herrn Groß zur Wendezeit wiederhaben. Dafür konnte ich mich besonders einsetzen. Der Herr Groß wurde dann Vorsitzender des Vorstandes. Was ich nicht ahnte, da er keinen Außenhandel mehr hatte, hat er mich gebeten, den Vertrieb zu organisieren. Das hieß zu Gutdeutsch, meine Aufgabe bestand darin, pro Jahr etwa reichlich 2 Milliarden-Aufträge zu versuchen zu akquirieren. Im Betrieb selbst zur Wendezeit war es natürlich so, da die Kapazität viel größer war als die Nachfrage, mussten insbesondere ältere Fachkollegen entlassen werden. Da ich im Betrieb groß geworden bin, kannte ich viele, und es war an sich eine furchtbare Aufgabe, den Leuten, die noch leistungsfähig waren, zu sagen: „Sie werden hier nicht mehr gebraucht. Sie können nicht mehr bezahlt werden.“ Da gab es viele Tränen, viel Verzweiflung. Manches konnten wir mildern, aber nicht alles. Und die Belegschaft schrumpfte also sukzessive um tausende Leute, die leider nicht mehr mit Arbeit versorgt werden konnten.
Kim Kamenik: Und ist Ihnen da ein Schicksal besonders im Gedächtnis geblieben?
Siegfried Möbius: Ja, mehrere. Ich will mal eins sagen. Ein ehemaliger Brigadier, der Herr Singer, den kannte ich seit 1961. Ich habe ein Praktikum hier im Betrieb gemacht und Herr Singer war ein sehr forscher Mann, der seine Arbeit gut organisierte. Es war immer Verlass auf ihn und mit circa 50 Jahren, Anfang 50 Jahren musste ihm die Entlassung ausgesprochen werden. Er hatte daran keine Schuld. Wir hatten auf dem Markt keine Abnehmer mehr.